Abenteurerin Kate Harris
Es ist sinnlos, von Wissen zu sprechen. Alles ist Experiment und Abenteuer. Wir vermischen uns ständig mit unbekannten Mengen. Was wird kommen? Ich weiß es nicht.
– Virgina Woolf, The Waves
Kate Harris eröffnet mit diesen Worten ihr Buch und bereichert es durch viele weitere Zitate, die ihre Lebensphilosophie darlegen. Sie ist eine Abenteurerin, Forscherin und Schriftstellerin, deren größtes Abenteuer eine Reise zum Mars sein sollte.
Sie steht für viele weibliche Abenteurerinnen dieser Welt, die sich von geschlechterspezifischen Stereotypen frei machen und Grenzen des Möglichen verschieben. In dieser männlich dominierten Entdecker*innenwelt gab es schon immer weibliche Personen, die ihrem Drang nach dem Unbekannten und dem Freisein auslebten. Allerdings standen diese meist im Schatten der (Ehe-)Männer, oder wurde für das Brechen von Konventionen eher verpönt als gefeiert. Könnte man* dann nicht sagen, sie waren doppelt mutig? Meiner Meinung nach verdient es jede einzelne Geschichte dieser Frauen* ihr Echo in der Gesellschaft und der Wildnis zu finden.
Terra Incognita – Fern-Fernweh
Kate Harris wuchs in den 80er-Jahren in Ontario, Kanada auf und wollte bereits als Kind Entdeckerin werden. Sie definierte dabei den Begriff als etwas, was gegensätzlich zum Status Quo ist. Etwas, was noch nie jemand zuvor gesehen oder beschrieben hat. Mit dem Gefühl, das große Zeitalter des Entdeckens bereits verpasst zu haben, sah sie ihren Weg hin zur Entdeckerin über die wissenschaftliche Laufbahn. Denn der Mars stand für sie für die Terra Incognita (unbekanntes Land, historisch nicht kartografiert) und galt somit als das Expeditionsziel in ihrer Jugend, auf welches sie hinarbeiten wollte.
Sie machte ihren Master of Philosophy in Naturwissenschaften und ihren Master of Science in Erd-und Planetenwissenschaften. Sie ist überzeugt, dass „die Wissenschaft ein friedenserhaltendes Instrument in umkämpften Gebieten sein kann, von Kaschmir über die Antarktis bis zum Weltraum“. Die technischen Voraussetzungen, die es brauchte, um auf dem Mars zu überleben, fühlten sich jedoch weniger nach der einzigartigen Intimität mit der Wildnis an, nach der sie suchte. Deshalb konzentrierte sie sich wieder auf die Erde. Denn um sich wie auf einem anderen Planeten zu fühlen, muss man* gar nicht unbedingt auf einen anderen Planeten. In einem Interview sagte sie: „Ich wollte die Art von Wildnis, die mich auslöschen könnte, wenn ich nicht zu gleichen Teilen mutig und vorsichtig wäre“. Und diese fand sie auf ihren zahlreichen Expeditionen.
Im Zuge der Wissenschaft
Seitdem hat Harris alle sieben Kontinente erkundet. Einschließlich einer sommerlichen Fahrradtour durch die Vereinigten Staaten und eines Forschungsaufenthalts in der Antarktis. Als Rhodes-Stipendiatin an der Universität Oxford unternahm sie eine Wanderung durch das Kaschmirgebirge in Indien, um die Auswirkungen geopolitischer Grenzen auf den Schutz der Wildnis zu untersuchen. Im Jahr 2006 folgte sie auf einer viermonatigen, 4.000 Kilometer langen Radtour durch die Berge und Wüsten Westchinas einem Teil der Seidenstraßenroute Marco Polos.
Das alte Netz von Karawanenstraßen
Im Jahr 2011 sicherten sich Harris und ihre Reisepartnerin Melissa Yule ein Polartec Challenge-Stipendium. Somit machten sie sich auf den Weg, um die gesamte Seidenstraße, 10.000 Kilometer von der Türkei bis nach Nordindien, mit dem Fahrrad zurückzulegen. Kate schrieb über dieses Abenteuer das Buch “Lands of lost borders- A journey on the silk road“. In diesem drückt sie auf wundervolle, poetische Weise aus, was ein Abenteuer ausmacht. Sie bereichert ihre Erzählungen durch ihren wissenschaftlichen Hintergrund mit vielen Fakten über die Regionen und ihre Geschichten.
Ihr Verhältnis zu Grenzen ist grenzenlos. Sie verabscheut diese, weil sie ihrer Meinung nach Menschen, wilde Orte, Tiere und Ökosysteme voneinander trennen. Genauso scheint sie sich in ihrem Dasein keinen Grenzen zu unterwerfen. Statt Besitzanspruch durch das Flaggenaufstellen an Orten, statt Ansehen durch höher, schneller, weiter als alle anderen Entdecker*innen hinterherzueifern, geht es für sie um das Neuschreiben der eigenen Karte. Im Zentrum steht das Gefühl, Teil dieses Planeten zu sein und eine grenzenlose Verantwortung diesem gegenüber zu spüren.
Auf die Reise lesen
In dem Buch „Lands of Lost Borders“ radelt sie mit ihrer besten Kindheitsfreundin Melissa los. Auf ihrem Weg trotzen sie eiskaltem Regen entlang des Schwarzen Meeres, weichen Schlaglöchern in Georgien aus, und ersticken in der usbekischen Wüste fast am Staub. Sie fahren durch die überraschende Schönheit der kaukasischen Wälder, die aus Profitgründen abgeholzt wurden. Sie folgen dem Fluss Pyanj, der das ehemalige politische Gebiet Badachschan in Afghanistan und Tadschikistan teilt.
Unerkannt passieren sie die von den Scheinwerfern der chinesischen Behörden kontrollierte tibetische Grenze. Auf der anderen Seite bewältigen sie dann eine 1.000 Kilometer lange, geheime Durchquerung Tibets. Steile Anstiege, Schnee, Dauerregen und Lastwagen, die an ihnen vorbeibrausen begleiten sie auf ihrem Weg. Sie treffen Menschen, die sie einladen auf ihrem Grundstück zu zelten, eine Mahlzeit mit ihnen zu genießen oder in einem freien Bett zu schlafen. Ihre Ehrlichkeit in ihrer Lebensgeschichte, die Selbstzweifel, die zwischenmenschliche Liebe und die endlose Willenskraft entführen einen mit auf diese Reise.
Kollektive Verantwortung
Dieses Buch hat mich gleichermaßen inspiriert und berührt. Kate Harris Werte und Lebensphilosophie überschneiden sich in vielerlei Hinsicht auch mit den FernWind-Werten. Kate Harris war als Kind von Marco Polos Abenteuer auf der Seidenstraße begeistert – bis sie feststellte, dass viele der Entdecker*innen Wirtschaftsdiener*innen waren. Dies hatte erhebliche negative Folgen für die Orte, die entdeckt wurden, und die dort bereits lebenden Menschen. Auch auf unseren Reisen an abgelegene Orte spielt es eine große Rolle, respektvoll mit der Natur umzugehen, Rücksicht auf Pflanzen und Tiere zu nehmen und fragile Ökosysteme nicht unnötig zu belasten. Die höchste Priorität hat dabei die Stärkung des Bewusstseins für ökologische Zusammenhänge und der Bildungs- und Schutzauftrag der Natur.
Bei unserer Zusammenarbeit mit lokalen Guides ist es uns wichtig, faire Löhne zu zahlen, auf die Arbeitsbedingungen zu achten und der Kultur des Ortes mit Respekt zu begegnen. So agieren wir sozial nachhaltig. Schließlich haben wir auch bei einigen Touren einen Forschungshintergrund, da auch wir daran glauben, dass die Wissenschaft der Weg zur Nachhaltigkeit ist. Sie kann ein Friedensinstrument sein, sowie unser Verantwortungsgefühl gegenüber der Umwelt nähren.
Das Ziel all unserer Erkundungen ist also nicht Wissen, sondern Verwandtschaft – ein vertieftes Gefühl der Verbundenheit mit dem Planeten und mit allen anderen Erdbewohnern, sogar mit den Pinguinen. Es geht nicht nur um die Seele der Erforschung, sondern um das Wohlergehen unserer Welt. Wenn wir uns nicht kollektiv unserer gemeinsamen Zerbrechlichkeit und unseres Schicksals bewusst werden und unser Verhalten ändern, wird keine unserer Karten von Bedeutung sein.
– Kate Harris – Juni 2018, The Future of Exploration
Links
- Webseite Kate Harris: https://www.kateharris.ca
- Harris‘ Buch „Land of Lost Borders“: https://www.penguinrandomhouse.ca/books/538575/lands-of-lost-borders-by-kate-harris/9780345816788
- Deutsche Fassung „Auf der Seidenstraße“: https://shop.nationalgeographic.de/auf-der-seidenstrasse